Vereinfacht ausgedruckt: Mathematik ist ein System von Symbolen, um die Prozesse in unserer Welt systematisch und strukturiert zu beschreiben. Eine Art weltweit einheitlich geregelte Sprache. Sogar mit eigenen „Vokabeln“ (Symbolen) und „Grammatik“ (Regeln)! Aber ein großer Unterschied herrscht doch zu den anderen Sprachen: die lebendige Welt der Mathematik ist immer um uns herum und wir müssen nicht ins Ausland fahren, um diese Sprache richtig beim aktiven Anwenden zu erlernen! Wenn wir verstehen, dass wir in der Welt der Mathematik leben und unsere Welt nur in diese „mathematische Sprache“ übersetzt werden müsste bzw. umgekehrt – jede Rechenaufgabe in die konkrete Geschehnisse aus unserem Leben, bekommt der Mathematikunterricht plötzlich Sinn und somit macht viel mehr Lust! Dann macht auch Mathematik Spaß! Wenn aber den Kindern die Verbindung zwischen dem Mathebuch und der realen Welt nicht vom Anfang an klar ist, denen wird Mathematik zum Horrorfach…
Mathematik hat viele Teilgebiete. Unter Anderem: Arithmetik (auf griechisch „die Zahlenmäßige [Kunst]“), Geometrie (griechisch „Erdmessung“) oder z.B. Algebra (arabisch „Zusammenfügen der gebrochenen Teile“ – die Rechnung mit Unbekannten X). Zuerst lernt man die Basis, nämlich die Arithmetik – das Rechnen mit natürlichen Zahlen. „Rechnen“ auf Spätlatein heißt „calculare“. Das Wort „schlecht“ auf griechisch ist „dys“. Somit bedeutet Dyskalkulie „schlecht rechnen“. Was muss man alles für diese „Zahlenmäßige Kunst“ können?
Das Symbolverständnis
die Symbole muss man abstrahieren und von konkreten Gegenständen differenzieren können, denen eine bestimmter Bedeutung zuordnen und diese sich merken können. Die ersten mathematischen Symbole sind die Zahlen und deren Bedeutung ist bestimmte Menge, die im Kopf sich vorgestellt werden muss. Was ist das Schwierige daran? Stellen Sie sich vor, die indo-arabischen Zahlen verschwinden und wir ersetzen die Zahlen durch unser Alphabeth – das können wir genauso gut auswendig, wie auch viele Kleinkinder das „Zählen“. Wenn uns jemand fragt, ist Q weiter als M, wissen wir, wenn wir oft mit dem Wörterbuch arbeiten. Aber wie viel weiter? Jetzt rechnen Sie aus:
J-G=? oder K+R=? oder F+?=P
Haben Sie es geschafft, ohne jeden Buchstaben auf den Fingern abgezählt zu haben? Dann gehören Sie zu den Ausnahmen! Wenn nicht – keine Bange, Sie sind völlig „normaler“ Mensch! Es wäre viel leichter gewesen, C-A=? zu rechnen, oder? Und wenn die Kinder zum bestimmten Symbol (Zahl) kein Mengenbild im Kopf abspeichern, müssen sie immer so rechnen, wie Sie es gerade probiert hatten – nämlich auf den Fingern!
Minus, Plus, Mal und Geteilt sind auch Zeichen mit Bedeutung. Wenn man deren Bedeutung nicht kennt, kann man zu den Textaufgaben keine Rechnung schreiben. Oder überhaupt ausrechnen: so kann 6+1=5 und 6-1=7 entstehen… Oder 8:4=32…
Dazu kommt auch noch, dass die Stelle der Ziffern in der Zahl auch eine Symbolfunktionhat: 57 ist nicht das Gleiche wie 75! Und 1005 ist nicht gleich 105!
Wir rechnen nämlich in einem Zehnersystem: d.h. wir haben nur 10 Ziffern (das sind die „Tasten“ auf dem Telefon: 0-9) und aus denen „basteln“ wir verschiedenste Zahlen. Da bekommt die gleiche Ziffer je nach der Stelle in der Zahl eine andere Bedeutung!
Es gibt aber auch andere Systeme, mit denen die Schüler konfrontiert werden: das 12er System (Uhrenziffernblatt oder Jahr), das 60er System (Sekunden und Minuten), das 7er System (Woche), das 24er System (Tag). Da brummt schon auch einem durchschnittlichen Schüler der Kopf, wenn er rechnen muss: wie viele Stunden sind 101 Minuten? Oder wie viele Tage sind 101 Stunden? Oder wie viele Wochen sind 101 Tage? Oder wie viele Jahre sind 101 Monate?! Geschweige von den Binärsystemen (0 und 1) und Oktasystem (die bekannten Bits und Bytes), die unser modernes, digitales Leben bestimmen, aber vor denen die meisten von uns fürchten, wenn wir damit rechnen müssten!
Das Komma in Mathe ist im Unterschied zur Kommasetzung in den Sätzen ein mächtiges Symbol: an verschiedenen Stellen kann aus der „gleichen“ Zahl total andere Werte werden: 3,54 kg ≠ 35,4kg!
Erschwerend für die deutschen Kinder ist, dass die Leserichtung bzw. das Aussprechen der Zahlen 21-99 „umgekehrt“ zu der Schreibrichtung ist (21=einundzwanzig anstatt zwanzigundeins), aber bei Hundertern und Tausendern wiederum man schreibt wie man spricht. Hier hilft nur eines: entscheiden, ob der Stift schreibt, wie die Zunge vorspricht (die Einer rechts und die Zehner dann davor), oder sich die Zahl zuerst sich vorstellen und dann aufschreiben (als ob man sie in den Taschenrechner die Zahl eingibt). Aber beide Methoden parallel bringen das Kind nur noch mehr durcheinander!
Das „Visualisieren“
ist die Vorstellung der Menge im Kopf. Eine Art Foto, nur dass man es anstatt im Computer im Kopf bearbeiten kann. Aber solange die Mengenfotos im Kopf wieder verschwinden (kennen Sie das: Sie arbeiten am PC und sind sich sicher, das Dokument gespeichert zu haben, aber am nächsten Tag finden Sie es nicht mehr? So fühlen sie sich rechenschwache Kinder jeden Tag…), kann man nichts mit den Fotos machen, oder? Man muss neu fotografieren und wieder speichern… Doch auch wenn man ausreichend solcher Mengenbilder richtig fest im Kopf gespeichert sind, z.B. wie auf dem Würfel oder in der Eierpackung oder auf den Fingern…
…ist damit zu operieren (Rechenoperation) anstrengender als nur ein Bild abzurufen:
Die Rechnung ist immer eine Veränderung der ersten Menge, ein Ereignis, wie ein kurzer Film! Man muss fast ein Regisseur werden, um die potentiellen Mengenveränderungen sich vorstellen zu können!
Noch praktisch konkret oder schon im Kopf?
Es fällt nicht schwer, 10 Gummibärchen abgezählt auf den Tisch zu legen, davon 6 laut zählend aufzuessen und den Rest abzuzählen. Aber sind die Gummibärchen nicht da, ist die Lösung 10-6=? auch weg.
Das gleiche gilt für jedes andere Hilfsmittel (Würfel, Rechenschieber, Plättchen, Perlen usw.): wenn man nicht lernt, das konkret eingeübte Rechengeschehen (wegnehmen, dazutun, verteilen) im Kopf ablaufen zu lassen, bleibt die richtige Lösung beim Nicht-da-sein der Hilfsmitteln auch aus! Oder man zählt heimlich auf den Fingern ab…
Das Schwierigste für die rechenschwachen Kindern ist:
- die mentale Vorstellung von Mengenveränderungen,
- die Strukturen und die Gesetzmäßigkeiten sowie
- das Verständnis von verschiedenen Systemen.
Mathematik versucht die Welt in verschiedenen Systemen und Strukturen und deren Gesetzmäßigkeiten („Regeln“) zu beschreiben. Das totale Gegenteil von Kunst und Sprachen! Wenn das Kind aber eher ein künstlerische oder ein „Sprachtyp“ ist, fällt es ihm schwer, in solchen Systemen und Strukturen zu denken – es muss mit Mühe diese Denkart erlernen.
Wenn das Kind diese Systeme gar nicht versteht und die Strukturen nicht erkennt, versucht es alles auswendig zu lernen, was in Mathematik nicht funktioniert…
Dazu noch: verschiedene Darstellungsweisen der Menge in Mathebüchern sollen für Schüler eine Denkförderungsein. Für Rechenschwache dagegen eine zusätzliche Verwirrung: Zahlenstrahl, Hundertertafel, Rechenschieber, Geld, km, m, Zehnerstangen, Einerwürfel und Hunderterplatten, dann noch Tabelle mit HZE… Sie sehen hier überhaupt keine Zusammenhänge – alles für sie ist ein neues System…
Und als ob das „normale“ Rechenaufgaben nicht ausreichend würden, gibt es noch „Abwechselung“: Rechenmauer, Rechenkreisel, Dreiecke, Elefanten… Da glaubt man, gerade das Wesentliche (das Rechnen) einigermaßen kapiert zu haben, als plötzlich das Kind vor einer „neuen Struktur“ steht und verzweifelt: „Was hat es überhaupt mit dem gerade Gelernten zu tun?!“…
Mengenverständnis und Zahlenbegriff
Zuerst entdecken die Kinder den Unterschied zwischen „ein“ ( und „viel“ und die Größenunterschiede. Das Interesse an Größenvergleich weckt das genaue Hinschauen bei den „Vielen“: welches „viel“ ist mehr als das andere „viel“ (3 Schokobonbons ist mehr als 2 Bonbons!). Welches „viel“ nicht mehr mit dem Auge von dem anderen „viel“ unterscheiden kann, belässt man bei „ganz viel“ bis zum nächsten Entwicklungssprung. Dieses „Viel“ (Menge) immer genauer zu analysieren fängt im 2.Lebensjahr an und dauert bis ins Erwachsenenalter – bei bestimmten Dingen bleibt undefiniertes „Viel“ einfach „viel“, z.B. Reiskörner auf dem Teller oder heruntergefallene Blätter im Herbst!
Dabei kommt das Miterleben von Zählen dazu. Das Zählen ist das Benennen „der Ordnungsreihenfolge“ der Gegenstände in der Zahlenreihe, welche auditiv – wie ein Lied – auswendig ( bis 10 schon oft im 4.Lebensjahr) gelernt wird. Das Zählen macht aber noch mehr Spaß als Lieder zu singen – dabei bekommt man mehr Lob und Anerkennung von Erwachsenen!
Schafft man später das Wort-Endergebnis (das Zahlwort) mit dem Bild – mit der Menge der Gegenstände und deren Struktur – abzuspeichern, kann das Kind das nächste mal das entsprechende Zahlwort genau abrufen, d.h. die Menge benennen. Den Kindern mit schwachem auditiv-visuellem Gedächtnis in diesem Bereich fällt es sehr schwer: sie müssen immer neu zählen.
Unser Auge kann aber als eine Einheit nur bis 3 Gegenständen erkennen – bei höheren Zahlen muss das Gehirn die Gegenstände gruppieren, besonders wenn sie nicht in einer Reihe hingelegt sind, was im echten Leben fast immer ist: 2 oben und 2 unten und 1 in der Mitte ist genauso viel wie 3 oben und 2 unten, nämlich 5. Hier kommt die Raum-Lage-Wahrnehmung ins Spiel: den Kindern mit der Raum-Lage-Wahrnehmungsschwäche fällt es schwer. Solche Zerteilung der Menge im Raum ergibt bestimmte symbolische Bilder, nämlich Mengenbilder (ähnlich wie Sternenbilder im Himmel erkannt werden können). Schafft Kind ab dem 5. Lebensjahr in den Gegenständen solche Mengenstrukturen oder -bilder zu sehen, kann es die Menge erkennen.
Wenn das Kind diese Mengenstrukturen erkennt, fängt an diese überall zu suchen und zu benennen: es hat die Zahlen entdeckt und fängt strukturiert zu denken!